Jahrzehntelang waren internationale Adoptionen in der Schweiz eine Selbstverständlichkeit. Seit den 80er-Jahren gab es immer wieder Kritik wegen Verdachts auf illegale Praktiken. Nun reagiert die Politik und nimmt die geltenden Regeln unter die Lupe. Wie kam es dazu?
Celin Fässler gehört zu den rund 950 Menschen, die zwischen 1973 und 1997 aus Sri Lanka von Schweizer Eltern adoptiert wurden. Sie war drei Wochen alt, als sie 1982 von Alice Honegger, die in St. Gallen eine behördlich anerkannte Adoptions-Vermittlungsstelle führte, in die Schweiz vermittelt wurde. In Europa waren es an die 11000 Kinder aus Sri Lanka, mehrheitlich Mädchen. Viele davon wurden in ihrer Heimat gestohlen und verkauft. Wie korrupt die Behörden in Sri Lanka agierten und im Land systematisch kommerzieller Kinderhandel betrieben wurde, deckte 2017 ein niederländisches Rechercheteam auf.
Sri-Lanka-Adoptionsskandal erreicht die Schweiz
Der TV-Beitrag aus Holland brachte einen Stein ins Rollen – bis in die Schweiz. Medienberichte über die Herkunftssuche von Betroffenen machten deutlich, dass sich auch die Schweiz mit unrechtmässigen Adoptionsverfahren aus Sri Lanka beschäftigen muss. Die damalige Nationalrätin und heutige waadtländische Regierungsrätin Rebecca Ruiz fordert im selben Jahr mit einem Postulat, Licht ins Dunkel zu bringen betreffend Adoptionen aus Sri Lanka. Mit Annahme des Postulates erhielt der Bundesrat im März 2018 mehrere Aufträge zur Aufarbeitung der Vergangenheit sowie für das Entwicklen von Vorschlägen, wie Betroffene bei der Herkunftssuche unterstützt werden können. Auch forderte das Postulat eine Analyse zum aktuellen rechtlichen Rahmen für internationale Adoptionsverfahren, mit Empfehlungen für Reformen.
Suche nach der Mutter
Zur selben Zeit war Celin Fässler mit der Suche nach ihrer Mutter beschäftigt. Viele verstanden ihr Bedürfnis nach Kenntnis ihrer Herkunft nicht: «Ich hörte oft, ich solle doch einfach dankbar sein, dass ich in der Schweiz aufwachsen darf», beschreibt sie eine oft gehörte Reaktion. Sie stiess auf den Verein Back to the Roots, der im Februar 2018 von Sarah Ineichen und weiteren aus Sri Lanka adoptierten Personen gegründet worden war. Sarah Ineichen war kurz davor mit ihrer Geschichte über den Babyhandel in Sri Lanka an die Öffentlichkeit gelangt, woraufhin sie von vielen Betroffenen kontaktiert wurde. Back to the Roots organisierte im August 2018 ein Treffen, an dem auch Celin Fässler teilnahm. Sie fühlte sich nicht mehr illoyal mit dem Wunsch nach Kenntnis ihrer Herkunft, sondern merkte, dass viele Betroffenen ihre Wurzeln kennen möchten. Mit gutem Recht: Die Kenntnis auf Herkunft ist gesetzlich in der Bundesverfassung als Bestandteil der persönlichen Freiheit und in der Kinderrechtskonvention verankert.
Systematik wird sichtbar
«Lange wurde argumentiert, es handle sich bei unrechtmässigen Adoptionsverfahren um Einzelfälle», sagt Celin Fässler, die sich heute als Mitglied der Geschäftsleitung für die Anliegen von Back to The Roots engagiert. Durch das Zusammentreffen so vieler aus Sri Lanka adoptierter Personen sei die Systematik sichtbar geworden: «Genauso wie bei mir gibt es in den meisten Adoptionsunterlagen Unstimmigkeiten», erklärt sie das Ausmass des Skandals. Bis heute konnte sie ihre leibliche Mutter darum nicht finden – trotz intensiver Suche in Sri Lanka. «Typisch ist, dass die Adoptionseinwilligung auf den Unterlagen von einer Frau stammt, die bezahlt wurde, um die Mutter zu spielen», so Celin Fässler. Das sei einer von vielen Gründen, warum die Herkunftssuche so schwierig sei. Das war zeitweise sehr belastend für die zweifache Mutter. Ihr hatte man die Geschichte erzählt von den «armen Kindern, die Glück haben, in der Schweiz eine neue Zukunft zu finden». Heute weiss sie, dass ihre Geschichte vielleicht eine ganz andere ist.
Back to the Roots bewegt
Back to the Roots spielte eine Schlüsselrolle beim Sichtbarmachen der illegalen Adoptionen und dem Erkennen von politischem Handlungsbedarf. Viele Betroffene gingen an die Öffentlichkeit. In Erfüllung des Postulats Ruiz wurde vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) eine Expertinnengruppe «Internationale Adoptionen» eingesetzt. Die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) bildete zusammen mit dem Bundesamt für Justiz eine Arbeitsgruppe «Herkunftssuche».
Behördenversagen
Die erste der Studien der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) erschien 20202: Sie belegt, dass die Schweizer Bundesbehörden dank kritischer Medienberichterstattung bereits 1982 über den Kinderhandel in Sri Lanka informiert waren, aber keinen Stopp verhängt hatten. Die St. Galler Aufsichtsbehörde etwa liess die Adoptionsvermittlerin Alice Honegger jahrzehntelang gewähren, obwohl Klage um Klage gegen sie einging. Erst 2022 veröffentlichte der Kanton St. Gallen eine eigene Untersuchung, die zeigt, dass kein einziger Fall die damaligen rechtlichen Voraussetzungen für eine Adoption erfüllt hatte. Eine weitere von der ZAHW 2023 veröffentlichte Studie bestätigte das Naheliegende: Auch bei Adoptionen aus anderen untersuchten Ländern deutet vieles auf unrechtmässige Adoptionsverfahren hin. Die Expertinnengrupppe «Internationale Adoption» legte im Sommer 2023 ihren Zwischenbericht mit zwei Szenarien vor: Ausstieg aus den internationalen Adoptionen oder Begrenzung auf Herkunftsländer mit nachweisbaren Mindestgarantien, kombiniert mit umfassenden Reformen.
Warum schaute die Politik so lange weg?
Joëlle Schickel-Küng, Co-Leiterin Fachbereich Internationales Privatrecht beim Bundesamt für Justiz, sagt, auf die Skandale der Achtzigerjahre habe die internationale Gemeinschaft mit dem Haager Adoptionsübereinkommen (HAÜ) reagiert. Kern des Abkommens von 1993 sind Schutzbestimmungen für das Kind, das Einsetzen von Zentralbehörden für Adoptionen sowie der Grundsatz, dass Adoptionen ins Ausland nur rechtens sind, wenn im Inland keine Adoptionsfamilie gefunden wird. Die Schweiz ratifizierte das Abkommen 2001. «Danach gelangte das Thema wieder in den Hintergrund, weil man der Meinung war, jetzt ja etwas getan zu haben», erklärt sich Schickel-Küng die folgende Passivität. «Es gab auch nach dem Haagerabkommen immer wieder Skandale zu Herkunftsländern, meistens Nicht-Vertragsstaaten wie etwa Kambodscha, Nepal, Guatemala oder Äthiopien», blickt die Juristin zurück. «Die Kooperation mit diesen Ländern wurde dann eingestellt, mehr geschah aber nicht.»
Obwohl die Behörden sich der Problematik schon in den Achtzigerjahren bewusst waren, wurden unvollständige Adoptionsdossiers weiterhin durchgewinkt, wie das Beispiel des Kantons St. Gallen zeigt. Eine gewisse «koloniale Haltung» habe das Wegschauen begünstigt, vermutet Joele Schickel-Küng. Damit meint sie die damals verbreitete und auch teils heute noch bestehende Vorstellung, dass die europäischen Länder diesen Kindern ein besseres Leben ermöglichen.
Öffentlicher Druck wächst
Die Stimmen von Betroffenen wirkten dieser Haltung entgegen: «Viele, in den Achtzigerjahren adoptierte Personen machten sich im Erwachsenenalter auf Herkunftssuche», sagt Joëlle Schickel-Küng. Damit habe die Sensibilisierung in der Gesellschaft zugenommen.
«Allgemein wird in den letzten Jahren dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung mehr Bedeutung beigemessen», erklärt Schickel-Küng die Entwicklung. Früher gab es noch das Adoptionsgeheimnis. In der Schweiz wurde dieses über die Rechtsprechung, aber auch in Zusammenhang mit den Skandalen um administrativ verwahrte Frauen angepasst: Tausende wurden ohne Gerichtsverfahren weggesperrt, weil sie minderjährig schwanger waren. Viele mussten unter grossem Druck ihre Babys zur Adoption freigeben und suchten später nach ihren Kindern.
Schicksal administrativ Verwahrter als Treiber
Noch 2006 hatte eine Motion zum Recht auf Kenntnis der Identität des leiblichen Kindes im Kontext von Zwangsadoptionen keine Chance im Parlament. Ab 2008 gelangten immer mehr Frauen mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit. 2009 wurde eine Neuauflage der Motion schliesslich angenommen und das Adoptionsgeheimnis mit der Revision des Adoptionsgesetzes 2016 gelockert. Dies war eine wichtige Voraussetzung für die spätere Herkunftssuche von adoptierten Personen aus dem Ausland. Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf entschuldigte sich 2010 bei den Opfern von administrativen Verwahrungen und ehemaligen Verdingkindern. Nicht nur Frauen waren betroffen. Es folgte eine lange Zeit der Aufarbeitung. Joëlle Schickel-Küng sieht in der Aufarbeitung dieser Schicksale ebenfalls einen Treiber für das Thema «illegale Adoptionen»: «Man wusste, dass man solch heikle Themen nicht einfach unter den Teppich kehren kann.»
Politik handelt
Für Celin Fässler war die bundesrätliche Stellungnahme im Dezember 2020 ein Meilenstein: «Dass der Bundesrat sein Bedauern über die fragwürdigen Adoptionen äusserte, zeigt, dass die Politik beim Thema ‹unrechtmässige Adoptionsverfahren› nicht mehr wegschauen kann». Dass die Betroffenen selbst zu Wort kommen, sei besonders wirkungsvoll. «Man spricht mit uns, nicht über uns», so Celin Fässler. «Wir sehen uns nicht als Opfer, sondern gestalten mit.» Der Verein hat Einsitz in Arbeitsgruppen, berät bei Forschungsprojekten, ist integriert in Bildungsangebote für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter.
Back to the Roots setzt auf Sichtbarkeit, Gesetzesreformen und auf Unterstützung von Herkunftssuchenden. Denn diese ist mit Reisen nach Sri Lanka und DNA-Tests kostspielig. «Es ist auch wichtig, Betroffene sorgfältig beratend zu unterstützen», betont Celin Fässler. Die Suche zwischen Hoffnung und Enttäuschung sei emotional sehr belastend. Die Forderung nach finanziellen Mitteln des Bundes fand Gehör:Bundesrätin Keller-Sutter sowie die KKJPD gaben 2022 grünes Licht für ein Pilotprojekt zur Unterstützung von adoptierten Personen aus Sri Lanka, das kürzlich bis 2025 verlängert wurde.
Es gibt noch viel zu tun
Der Bund und die Kantone übernehmen mit dem Projekt Verantwortung für das Versagen in der Vergangenheit. Inzwischen haben sich viele Menschen aus weiteren Ländern bei Back to the Roots gemeldet. Es brauche weitere finanzielle Unterstützung von Bund und Kantonen, gibt Celin Fässler zu bedenken: «Kein Geld der Welt bringt die Herkunftsfamilie zurück, aber mit wirksamen Unterstützungsmassnahmen steigt die Chance, Hinweise zu finden», sagt die engagierte Aktivistin mit Nachdruck. Back to the Roots hat in Sri Lanka ein Team aufgebaut, das Betroffene bei der Herkunftssuche unterstützt. Auch sichere DNA-Datenbanken spielen eine wichtige Rolle. Darum hat der Verein in Sri Lanka im Rahmen der Sensibilisierungskampagne «Mother and Child Reunion» auch Angebote für DNA-Tests geschaffen. So können Frauen, die durch Adoption von ihren Kindern getrennt wurden, nach diesen suchen.
Welche Position hat der Verein gegenüber nötigen Reformen im Adoptionsrecht? Celin Fässler antwortet mit einer Frage: «Kann die Schweiz garantieren, dass internationale Adoptionen künftig in einem sicheren Rahmen abgewickelt werden?» Ende 2024 wird die Expertinnengruppe «Internationale Adoptionen» ihren Schlussbericht mit konkreten Vorschlägen präsentieren.
Back to the Roots
Weitere Quellen (Studien etc.) finden sich HIER